Nachdenkliches

Montag, 26. Juni 2006

Von Schuld und Sühne

Wenn euer Gast mit dem Wind wandert, begeht ihr, allein und unbewacht, ein Unrecht an anderen und dadurch an euch selber. Und für dieses begangene Unrecht müsst ihr am Tor der Seligen anklopfen und eine Weile unbeachtet warten.
Wie der Ozean ist das Göttliche in euch;
Es bleibt ewig unbefleckt.
Und wie der Äther erhebt es nur die Beflügelten.
Wie die Sonne auch ist das Göttlich in euch;
Es kennt nicht die Gänge des Maulwurfs, noch sucht es die Höhlen der Schlange.
Doch das Göttliche wohnt nicht allein in eurem Sein; vieles in euch ist noch Mensch, und vieles in euch ist noch nicht Mensch, sondern ein formloser Zwerg, er im Nebel schlafwandelt und nach seinem Erwachen sucht.
Und von dem Menschen in euch möchte ich jetzt sprechen.
Denn er ist es und nicht das Göttliche in euch und auch nicht der Zwerg im Nebel, der Schuld und Sühne kennt.
Oft habe ich euch von einem, der ein Unrecht begeht, reden hören, als sei er nicht einer von euch, sondern ein Fremder und ein Eindringling in eure Welt.
Aber ich sage euch, selbst wie der Heilige und Rechtschaffene nicht über das Höchste hinaussteigen kann, das in jedem von euch ist, so kann der Böse und Schwache nicht tiefer fallen als das Niedrigste, das auch in euch ist.
Und wie ein einzelnes Blatt nicht ohne das Stille Wissen des ganzen Baumes vergilbt,
so kann auch der Übeltäter kein Unrecht tun ohne den verborgenen Willen von euch allen.
Wie in einer Prozession geht ihr zusammen eurem göttlichen Ich entgegen.
Ihr seid der Weg und die Reisenden.
Und wenn einer von euch fällt, fällt er für die hinter ihm, eine Warnung vor dem Stolperstein.
Ja, und er fällt für die vor ihm, die, obgleich schneller und sicherer im Schritt, den Stein des Anstoßes nicht entfernten.
Und noch dies, mögen die Worte euch auch schwer auf dem Herzen liegen: der Ermordete ist nicht ohne Verantwortung an seiner Ermordung und der Beraubte nicht schuldlos an seiner Beraubung.
Der Rechtschaffene ist nicht unschuldig an den Taten des Bösen, und der mit sauberen Händen ist nicht rein von den Taten des Missetäters.
Ja, der Schuldige ist sehr häufig das Opfer des Geschädigten.
Und noch öfter ist der Verurteilte der Sündenbock für den Schuldlosen und den nicht Beschuldigten.
Ihr könnte nicht den Gerechten vom Ungerechten trennen und nicht den Guten vom Bösen;
Denn sie stehen zusammen vor dem Angesicht der Sonne, wie der schwarze und der weiße Faden zusammengewoben sind.
Und wenn der schwarze Faden reißt, wird der Weber das ganze Gewebe prüfen und auch den Webstuhl untersuchen.
Wenn einer von euch die untreue Ehefrau zur Anklage bringt,
Soll er auch das Herz ihres Ehemannes in die Waagschale legen und seine Seele mit gleichem Maß messen.
Und der den Übeltäter auspeitschen will, soll den Geist dessen erforschen, dem Übles getan wurde.
Und wenn einer von euch im Namen der Rechtschaffenheit strafen und die Axt an den Baum des Bösen legen möchte, soll er ihn bis zu seinen Wurzeln prüfen;
Und wahrhaftig, er wird die Wurzeln des Guten und Bösen finden, des Fruchtbaren und des Unfruchtbaren, alle ineinander verflochten im stillen Herzen der Erde.
Und ihr Richter; die ihr gerecht sein wollt,
welches Urteil sprecht ihr über den, der zwar aufrichtig im Fleisch, im Geist aber ein Dieb ist?
Welche Strafe verhängt ihr über den, der im Fleisch tötet, im Geist jedoch selber getötet wird?
Und wie verfolgt ihr den, der in seinen Handlungen ein Betrüger und Unterdrücker,
Doch auch gekränkt und verletzt ist?
Und wie werdet ihr die bestrafen, deren Reue schon größer ist als ihre Untaten?
Ist nicht die Reue das Recht, das von dem Gesetz gesprochen wird, dem ihr gern dienen würdet?
Doch ihr könnt nicht dem Unschuldigen Reue auferlegen, noch sie dem Herzen des Schuldigen abnehmen.
Unaufgefordert wird sie in der Nacht anklopfen, damit die Menschen wachen und sich anschauen.
Und wie wollt ihr Gerechtigkeit verstehen, wenn ihr nicht alle Taten im vollen Licht anschaut?
Erst dann werdet ihr wissen, dass der Aufrechte und der Gefallene nichts als ein Mensch sind, der zwischen der Nacht seines kleinlichen Ichs und dem Tag seines göttlichen Ichs im Dämmer steht, und dass der Eckstein des Tempels nicht höher ist als der niedrigste Sein in seinem Fundament.

(c) Khalil Gibran (1883-1931)

Sonntag, 25. Juni 2006

Von der Freundschaft

Euer Freund ist die Antwort auf eure Nöte.
Er ist das Feld, das ihr mit Liebe besät und mit Dankbarkeit erntet.
Und er ist euer Tisch und euer Herd.
Denn ihr kommt zu ihm mit eurem Hunger, und ihr sucht euren Frieden bei ihm.
Wenn euer Freund frei heraus spricht, fürchtet ihr weder das "Nein" in euren Gedanken, noch haltet ihr mit dem "Ja" zurück.
Und wenn er schweigt, hört euer Herz nicht auf, dem seinen zu lauschen; denn in der Freundschaft werden alle Gedanken, alle Wünsche, alle Erwartungen ohne Worte geboren und geteilt, mit Freude, die keinen Beifall braucht.
Wenn ihr von eurem Freund weggeht, mit Freude, die keinen Beifall braucht.
Wenn ihr von eurem Freund weggeht, trauert ihr nicht; denn was ihr am meisten an ihm liebt, ist vielleicht in seiner Abwesenheit klarer, wie der Berg dem Bergsteiger von der Ebene aus klarer erscheint.
Und die Freundschaft soll keinen anderen Zweck haben, als den Geist zu vertiefen.
Denn Liebe, die etwas anderes sucht als die Offenbarung ihres eigenen Mysteriums, ist nicht Liebe, sondern ein ausgeworfenes Netz: und nur das Nutzlose wird gefangen.
Und lasst euer Bestes für euren Freund sein. Wenn er die Ebbe eurer Gezeiten kennen muss, lasst ihn auch das Hochwasser kennen.
Denn was ist ein Freund, wenn ihr ihn nur aufsucht, um die Stunden totzuschlagen?
Sucht ihn auf, um die Stunden mit ihm zu erleben. Denn er ist da, eure Bedürfnisse zu befriedigen, nicht aber eure Leere auszufüllen.
Und in der Süße der Freundschaft lasst Lachen sein und geteilte Freude.
Denn im Tau kleiner Dinge findet das Herz seinen Morgen und wird erfrischt.

(c) Khalil Gibran (1883-1931)

Mittwoch, 21. Juni 2006

Geben

Ihr gebt nur wenig, wenn ihr von eurem Besitz gebt.
Erst wenn ihr von euch selber gebt, gebt ihr wahrhaft.

Denn was ist euer Besitz anderes als etwas, das ihr bewahrt und
bewacht aus Angst, daß ihr es morgen brauchen könntet?
Und morgen, was wird das Morgen dem übervorsichtigen Hund bringen,
der Knochen im spurlosen Sand vergräbt,
wenn er den Pilgern zur heiligen Stadt folgt?

Und was ist die Angst vor der Not anderes als Not?
Ist nicht Angst vor Durst, wenn der Brunnen voll ist,
der Durst, der unlöschbar ist?

Es gibt jene, die von dem Vielen, das sie haben, wenig geben
- und sie geben um der Anerkennung willen,
und ihr verborgener Wunsch verdirbt ihre Gaben.

Und es gibt jene, die wenig haben und alles geben.
Das sind die, die an das Leben und die Fülle des Lebens glauben,
und ihr Beutel ist nie leer.

Es gibt jene, die mit Freude geben, und die Freude ist ihr Lohn.

Es gibt jene, die mit Schmerzen geben, und der Schmerz ist ihr Taufe.

Und es gibt jene, die geben und keinen Schmerz beim Geben kennen;
weder suchen sie Freude dabei, noch geben sie um der Tugend willen;
Sie geben, wie im Tal dort drüben die Myrte ihren Duft verströmt.
Durch ihr Hände spricht das Gute, und aus ihren Augen lächelt es auf die Erde.

Es ist gut zu geben, wenn man gebeten wird,
aber besser ist es, wenn man ungebeten gibt, aus Verständnis;

Und für den Freigebigen ist die Suche nach einem,
der empfangen soll, eine größere Freude als das Geben.

Und gibt es etwas, das ihr zurückhalten werdet?

Alles, was ihr habt, wird eines Tages gegeben werden;
daher gebt jetzt, daß die Zeit des Gebens eure ist
und nicht die eurer Erben.

Ihr sagt oft:
"Ich würde geben, aber nur dem, der es verdient:"
Die Bäume in eurem Obstgarten reden nicht so,
und auch nicht die Herden auf euren Weiden.

Sie geben, damit sie leben dürfen,
denn zurückhalten heißt zugrunde gehen.
Sicher ist der, der würdig ist,
seine Tage und Nächte zu erhalten,
auch alles andere von euch würdig.

Und der, der verdient hat, vom Meer des Lebens zu trinken,
verdient auch, seinen Becher aus eurem Bach zu füllen.

Und welcher Verdienst wäre größer
als der Mut und das Vertrauen, ja auch die Nächstenliebe,
die im Empfangen liegt?

Und wer seid ihr,
daß die Menschen sich die Brust zerreißen
und ihren Stolz entschleiern sollten,
damit ihr ihren Wert nackt und ihren Stolz entblößt seht?
Seht erst zu, daß ihr selber verdient,
ein Gebender und ein Werkzeug des Gebens zu sein.

Denn in Wahrheit ist es das Leben, das dem Leben gibt ,
während ihr, die ihr euch als Gebende fühlt,
nichts anderes sei als Zeugen.

Und ihr, die ihr empfangt -
und ihr seid alle Empfangende -,
bürdet euch nicht die Last der Dankbarkeit auf,
damit ihr nicht euch und dem Gebenden ein Joch auferlegt.

Steigt lieber zusammen mit dem Gebenden auf
seinen Gaben empor wie auf Flügeln;

Denn seid ihr euch eurer Schuld zu sehr bewußt,
heißt das, die Freigebigkeit desjenigen zu bezweifeln,
der die großherzige Erde zur Mutter und Gott zum Vater hat.

(c) Khalil Gibran (1883-1931)

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Evelyne Weissenbach
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