Sonntag, 15. Oktober 2006

Verklärter Herbst

Montag, 26. Juni 2006

Von Schuld und Sühne

Wenn euer Gast mit dem Wind wandert, begeht ihr, allein und unbewacht, ein Unrecht an anderen und dadurch an euch selber. Und für dieses begangene Unrecht müsst ihr am Tor der Seligen anklopfen und eine Weile unbeachtet warten.
Wie der Ozean ist das Göttliche in euch;
Es bleibt ewig unbefleckt.
Und wie der Äther erhebt es nur die Beflügelten.
Wie die Sonne auch ist das Göttlich in euch;
Es kennt nicht die Gänge des Maulwurfs, noch sucht es die Höhlen der Schlange.
Doch das Göttliche wohnt nicht allein in eurem Sein; vieles in euch ist noch Mensch, und vieles in euch ist noch nicht Mensch, sondern ein formloser Zwerg, er im Nebel schlafwandelt und nach seinem Erwachen sucht.
Und von dem Menschen in euch möchte ich jetzt sprechen.
Denn er ist es und nicht das Göttliche in euch und auch nicht der Zwerg im Nebel, der Schuld und Sühne kennt.
Oft habe ich euch von einem, der ein Unrecht begeht, reden hören, als sei er nicht einer von euch, sondern ein Fremder und ein Eindringling in eure Welt.
Aber ich sage euch, selbst wie der Heilige und Rechtschaffene nicht über das Höchste hinaussteigen kann, das in jedem von euch ist, so kann der Böse und Schwache nicht tiefer fallen als das Niedrigste, das auch in euch ist.
Und wie ein einzelnes Blatt nicht ohne das Stille Wissen des ganzen Baumes vergilbt,
so kann auch der Übeltäter kein Unrecht tun ohne den verborgenen Willen von euch allen.
Wie in einer Prozession geht ihr zusammen eurem göttlichen Ich entgegen.
Ihr seid der Weg und die Reisenden.
Und wenn einer von euch fällt, fällt er für die hinter ihm, eine Warnung vor dem Stolperstein.
Ja, und er fällt für die vor ihm, die, obgleich schneller und sicherer im Schritt, den Stein des Anstoßes nicht entfernten.
Und noch dies, mögen die Worte euch auch schwer auf dem Herzen liegen: der Ermordete ist nicht ohne Verantwortung an seiner Ermordung und der Beraubte nicht schuldlos an seiner Beraubung.
Der Rechtschaffene ist nicht unschuldig an den Taten des Bösen, und der mit sauberen Händen ist nicht rein von den Taten des Missetäters.
Ja, der Schuldige ist sehr häufig das Opfer des Geschädigten.
Und noch öfter ist der Verurteilte der Sündenbock für den Schuldlosen und den nicht Beschuldigten.
Ihr könnte nicht den Gerechten vom Ungerechten trennen und nicht den Guten vom Bösen;
Denn sie stehen zusammen vor dem Angesicht der Sonne, wie der schwarze und der weiße Faden zusammengewoben sind.
Und wenn der schwarze Faden reißt, wird der Weber das ganze Gewebe prüfen und auch den Webstuhl untersuchen.
Wenn einer von euch die untreue Ehefrau zur Anklage bringt,
Soll er auch das Herz ihres Ehemannes in die Waagschale legen und seine Seele mit gleichem Maß messen.
Und der den Übeltäter auspeitschen will, soll den Geist dessen erforschen, dem Übles getan wurde.
Und wenn einer von euch im Namen der Rechtschaffenheit strafen und die Axt an den Baum des Bösen legen möchte, soll er ihn bis zu seinen Wurzeln prüfen;
Und wahrhaftig, er wird die Wurzeln des Guten und Bösen finden, des Fruchtbaren und des Unfruchtbaren, alle ineinander verflochten im stillen Herzen der Erde.
Und ihr Richter; die ihr gerecht sein wollt,
welches Urteil sprecht ihr über den, der zwar aufrichtig im Fleisch, im Geist aber ein Dieb ist?
Welche Strafe verhängt ihr über den, der im Fleisch tötet, im Geist jedoch selber getötet wird?
Und wie verfolgt ihr den, der in seinen Handlungen ein Betrüger und Unterdrücker,
Doch auch gekränkt und verletzt ist?
Und wie werdet ihr die bestrafen, deren Reue schon größer ist als ihre Untaten?
Ist nicht die Reue das Recht, das von dem Gesetz gesprochen wird, dem ihr gern dienen würdet?
Doch ihr könnt nicht dem Unschuldigen Reue auferlegen, noch sie dem Herzen des Schuldigen abnehmen.
Unaufgefordert wird sie in der Nacht anklopfen, damit die Menschen wachen und sich anschauen.
Und wie wollt ihr Gerechtigkeit verstehen, wenn ihr nicht alle Taten im vollen Licht anschaut?
Erst dann werdet ihr wissen, dass der Aufrechte und der Gefallene nichts als ein Mensch sind, der zwischen der Nacht seines kleinlichen Ichs und dem Tag seines göttlichen Ichs im Dämmer steht, und dass der Eckstein des Tempels nicht höher ist als der niedrigste Sein in seinem Fundament.

(c) Khalil Gibran (1883-1931)

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Evelyne Weissenbach
... und Lena liebt

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